Als der Atomantrieb die Zukunft war

Von Hans-Robert Richarz

Der Traum vom Atomauto war typisch für den naiven Optimismus einer Ära, in der kaum jemand ahnte, welche Risiken mit der atomaren Erfindung verbunden waren. Und doch nahmen diese Fahrzeuge teilweise Entwicklungen voraus, die erst Jahrzehnte später zum Alltag gehören würden oder gar erst kommen werden.

Ford schuf mehrere in der Theorie atomgetriebene Traumautos. Zuletzt den zur Weltausstellung 1962 entworfenen Seattle-ite XXI, der wie der Nucleon mehr zu einem Fantasie- als einem Realitätsprodukt geriet.
Ford schuf mehrere in der Theorie atomgetriebene Traumautos. Zuletzt den zur Weltausstellung 1962 entworfenen Seattle-ite XXI, der wie der Nucleon mehr zu einem Fantasie- als einem Realitätsprodukt geriet.
(Bild: Ford)

Folgendes Zitat könnte durchaus von heute zu einem Blick in die ferne Zukunft stammen und einen Vorgeschmack darauf geben, was uns eines Tages blühen könnte: „Darüber, wie die Verkehrsmittel der Zukunft angetrieben werden, scheinen sich die Konstrukteure der Gegenwart einig zu sein. Der Benzin-Kolben-Motor ist, soweit man erkennen kann, fast verschwunden. Sicher gibt es noch irgendwo in einer verschlafenen Provinz ein paar Dieselmotoren." Aber in Wirklichkeit hätten sich weltweit längst andere Antriebsformen durchgesetzt. Prognosen zur Mobilität in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts? Weit gefehlt. Diese Mutmaßungen formulierte der Journalist Ernst Behrendt in seiner Titelgeschichte "So leben wir 1975" für die Zeitschrift "Hobby – erschienen im November 1955.

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Seither sind knapp 64 Jahre vergangen und zum Glück haben sich eine Reihe seiner Visionen als Fehlschlüsse herausgestellt. Zum Beispiel diese: „Da die Atomkraft bereits seit geraumer Zeit zur Elektrizitätserzeugung gebändigt ist, wird man sie wohl auch zum Antrieb von Autos benutzen können", glaubte Behrendt aus damals einsehbaren Gründen. Zwei Monate bevor das Heft mit seinem Artikel in den Kiosken lag, hatte in Genf eine Internationale Konferenz über die friedliche Nutzung atomarer Energien stattgefunden. Die Kongress-Teilnehmer waren zu dem Ergebnis gekommen, dass der Welt ein gewaltig ansteigender Energieverbrauch bevorstehe. Ihn zu bewältigen sei allein die Atomenergie in der Lage. Folglich gründete Bundeskanzler Konrad Adenauer in Bonn kurz danach das Bundesministerium für Atomfragen und berief als dessen ersten Chef Franz Josef Strauss ins Amt.

Auch wenn der Kalte Krieg zwischen West und Ost erst ein paar Jahre alt war und gerade ein atomares Wettrüsten in Gang gesetzt hatte, versprach die friedliche Nutzung der Kernenergie eine grandiose Zukunft. „Für viele Menschen sind Zukunftsträume nüchternste Gegenwart", sah Ernst Behrendt für 1975 voraus. „Am Morgen gehen sie in ihr Büro oder ihre Werkstatt; am Abend kehren sie in ihre Wohnung zurück; die Stunden zwischen Morgen und Abend verbringen sie auf Plattformen im Weltraum, in atomgetriebenen Autos, hinter dem Steuer phantastischer Maschinen, die buchstäblich Bäume ausreißen, oder auf rollendem Pflaster viele Meter unter der Erde."

Ein taschengroßer Kernreaktor im Kofferraum

Ein Jahr bevor Behrendt seine Zeilen zu Papier brachte und was ihm vielleicht als eine der Grundlagen für seine Prognosen diente, hatte die amerikanische Ford Motor Company den Prototypen FX-Atmos für die Chicago Auto Show 1954 komplett aus Fiberglass gebaut. Sein Design mit Heckflossen, Glasdach und Rücklichtern, die einem Raketenauspuff glichen, erinnerte an ein Düsenflugzeug. Das Cockpit hatte einen mittig montierten Fahrersitz und zwei Beifahrersitze hinten. Handgriffe ersetzten das normale Lenkrad, und der am Armaturenbrett angebrachte Radarschirm „Roadarscope" lieferte Verkehrsinformationen.

Die eigentliche Revolution aber befand sich laut Presse unter der Motorhaube. US-Zeitungen spekulierten, der Wagen werde wohl eine Art Atomkraftquelle erhalten. Doch vorerst hielt sich Ford in dieser Angelegenheit zurück. „Es wird nicht als zukünftiges Serienfahrzeug vorgeschlagen", sagte Lewis Crusoe, damals Ford-Vizepräsident. „Aus diesem Grund wurden bei der Entwicklung keine technischen Überlegungen angestellt.“

8.000 Kilometer mit einer Tankfüllung

Das änderte sich vier Jahre später beim Konzeptfahrzeug Ford Nucleon, das ein für den damaligen Geschmack elegantes, futuristisches Erscheinungsbild aufwies, keine Abgase produzierte und eine unglaubliche Reichweite bot, weil es im Kofferraum über einen taschengroßen Kernreaktor verfügte. Das zentrale Konstruktionskonzept des Nucleon war ein austauschbares Leistungsmodul zwischen den Hinterrädern, in dem der Kernreaktor, eine Dampfturbine, das Getriebe und die Achsantriebseinheit untergebracht waren.

Fords Ingenieure träumten davon, eines Tages herkömmliche Tankstellen zu verdrängen und an deren Stelle Tauschstationen für verbrauchte Reaktoren einzurichten. Die glichen im Wesentlichen denen eines Atom-U-Boots, sollten aber erheblich kleiner sein und Dampf mittels Uranspaltung herstellen, der für den Antrieb von Turbinen sorgte. Bei diesem System gingen die Entwickler davon aus, dass ein typischer Nucleon etwa 8.000 Kilometer mit einer einzigen „Tankfüllung" zurücklegen würde.

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