Lieferengpässe im Autohandel Fast 430.000 ersatzlose Stornierungen
Rund 430.000 vom Handel bestellte Neuwagen wurden allein in den vergangenen drei Monaten von den Herstellern und Importeuren nicht geliefert. Und meistens erhält der Händler keine Entschädigung, wie eine ZDK-Umfrage zeigt. Ein Anwalt schätzt die rechtlichen Möglichkeiten für den Handel ein.
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Fast 900 Händler hatten sich an der Online-Umfrage des Zentralverbands Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe (ZDK) in der vergangenen Woche beteiligt. Der Verband wollte wissen, wie viele Händler von Stornierungen seitens ihrer Hersteller betroffen sind und ob sie für die nicht gelieferten Fahrzeuge einen Ausgleich erhalten.
Zum Ergebnis: 884 Betriebe meldeten insgesamt knapp 26.400 Bestellungen, die ihre Hersteller oder Importeure in den vergangenen drei Monaten storniert hatten. Im Durchschnitt sind das 37 Autos pro Händler. Auf die 14.600 fabrikatsgebundenen Autohändler in Deutschland hochgerechnet, bedeutet das ein Gesamtstorno von rund 430.000 Fahrzeugen in den vergangenen drei Monaten, so der ZDK.
Nur 20 Prozent der betroffenen Händler (125) gaben an, für die stornierten Bestellungen einen Ausgleich oder eine Ersatzleistung erhalten zu haben: 71 Betriebe erhielten finanzielle Hilfe, 27 Betriebe Fahrzeuge mit abweichender Ausstattung und 26 andere Hilfe. 80 Prozent der von der Stornierung betroffenen Händler erklärten jedoch, keinerlei Ausgleich oder Ersatzleistung von ihrem Vertragspartner erhalten zu haben.
Peckruhn: Hersteller trägt Problem auf dem Rücken des Handels und der Kunden aus
„Hier entsteht der Eindruck, dass das Problem der Chipkrise auf dem Rücken der Partner und des Kunden ausgetragen wird, ohne dass es dafür eine Kompensation gibt“, sagt Thomas Peckruhn, ZDK-Vizepräsident und Sprecher der Fachgruppe Fabrikatsvereinigungen. Das habe auch negative Folgen für die Rentabilität der Händler. Dabei habe der Handel bereits genug Probleme und sei durch lange Lieferzeiten gebeutelt. Peckruhn:„ Wenn ich als Hersteller einen Auftrag annehme, dann muss ich auch dafür sorgen, dass das Fahrzeug gebaut und geliefert wird, Halbleiterkrise hin oder her.“ Hersteller und Importeure ignorierten, dass mit Annahme einer Bestellung ein rechtskräftiger Vertrag zustande gekommen sei, der nicht ohne weiteres einseitig geändert oder storniert werden könne.
Gleichzetig weist Peckruhn darauf hin, dass nicht alle Marken gleich betroffen seien. „Als Skoda-Händler weiß ich, dass es auch anders geht. Da gibt es für den Kunden dann als Ersatz ein Fahrzeug mit höherer Ausstattung, ohne dass er einen Mehrpreis zahlen muss“, so Peckruhn.
Angespannte Stimmung im Handel
Um überhaupt das seit Monaten bestehende Problem des Autohandels mit belastbaren Zahlen belegen zu können, habe der ZDK die Umfrage im Auftrag der Händler durchgeführt. Die Zahlen bestätigten den vorherrschenden Eindruck, dass Hersteller im großen Stil Aufträge aus dem Bestellsystem der Händler löschten – ohne jegliche Ausgleichsleistung.
Entsprechend angespannt sei die Stimmung im Handel, sagt Peckruhn. Auch die Unzufriedenheit der Kunden nehme zu. Zusätzlich verschärft würden die Lieferengpässe durch die angekündigten Änderungen der Innovationsprämie ab 2023. Kunden können aufgrund der Lieferzeiten nicht mehr sicher sein, dass sie noch in den uneingeschränkten Genuss der E-Prämie kommen, so Peckruhn. Das Ergebnis der Umfrage werde der ZDK nun aufbereiten und damit auf die Verbände der Autohersteller VDA und VDIK zugehen.
Anwalt: Bestätigte Bestellungen können nicht grundlos storniert werden
Welche rechtlichen Möglichkeiten der Autohandel hat, erläutert Uwe Brossette für »kfz-betrieb«. Brossette ist Fachanwalt für Vertriebsrecht von der Kölner Kanzlei Osborne Clarke. Es sei klar, dass bestätigte Bestellungen nicht einfach grundlos storniert werden könnten. Durch die Bestätigung sei schließlich ein Vertrag zustande gekommen, der auch gültig sei. „Man muss nicht Jura studiert haben, um das zu wissen“, betont Brossette.
Dem Hersteller oder Importeur böten sich in diesem Fall nur zwei Möglichkeiten, vom Vertrag zurückzutreten: wenn höhere Gewalt Ursache der Lieferengpässe sei oder wenn ein Importeur selbst nicht von seinem Hersteller beliefert werde. Auf höhere Gewalt könnten die Hersteller sich nicht berufen. „Der Chipmangel ist nicht durch ein Naturereignis ausgelöst worden, sondern dadurch, dass die Hersteller die Lage in der Pandemie falsch eingeschätzt und zu wenig Halbleiter bestellt haben“, stellt Brossette klar.
Hersteller bevorzugen bestimmte Modelle
Wenn sich ein Importeur auf sein vertragliches Rücktrittsrecht berufen will, den sogenannten Selbstbelieferungsvorbehalt, dann müsse er ein deckungsgleiches Geschäft nachweisen, sprich, dass er die Bestellung des Händlers beim Hersteller auch so aufgegeben habe. „Dann muss er noch nachweisen, dass der Hersteller aufgrund von Lieferengpässen keine Kapazität hat, die bestellten Fahrzeuge zu produzieren“, so der Jurist.
Weiterhin dürfe der Hersteller seine Produktion nicht priorisieren, beispielsweise indem er die Chips vorzugsweise in Fahrzeugen verbaut, die lukrativer sind, oder in Fahrzeugen mit begehrteren Antrieben. Dem Handel gegenüber sei eine solche Produktionsweise diskriminierend. Als Beispiel nannte der Jurist Ford, der die Produktion von Dieseln zugunsten des Baus von Benzinern gestrichen habe. Auch Jaguar Land Rover und Volvo hätten bei dem Einsatz ihrer Chips bestimmte Modelle bei der Produktion bevorzugt.
„Theoretisch könnte also jeder betroffene Händler in einem solchen Fall auf Schadenersatz klagen“, sagt Brossette. Das wolle jedoch keiner, und das helfe dem Handel nicht. Deshalb seien aus seiner Sicht die Händlerverbände gefragt, „ob sie gegen ihre Hersteller/Importeure aufgrund ihrer möglicherweise diskriminierenden Belieferung nicht juristisch vorgehen können“.
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