Tachomanipulation - Ein wachsendes Problem
Einige machen mit, viele schauen weg und die Verantwortlichen haben bisher nur wenig dagegen unternommen. Mittlerweile hat sich das Kavaliersdelikt von einst zum „kriminellen Volkssport“ entwickelt.
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Lange hatten Tachomanipulationen in Deutschland den Status eines Kavaliersdekikts. Gesetze gegen die Eingriffe gab es natürlich, aber die missachtete man großzügig, denn von Staats wegen hatten die Schrauber nur wenig zu befürchten. Bis Anfang des letzten Jahres. Dann kam der 15. März 2011, 6:00 Uhr morgens.
500 Beamte unter der Führung der Münchener Polizei durchsuchen nach umfangreichen Ermittlungen mehr als 150 Wohnungen und Firmen in Deutschland sowie in weiteren europäischen Ländern. Zweck der Übung: Die Behörden holten mithilfe der Ermittlungsgruppe „Tacho“ zum ersten großen Schlag gegen professionelle Tachomanipulierer aus.
Lange Zeit in eher homöopathischen Dosen ausgeübt, hat sich das einstige Kavaliersdelikt mittlerweile zu einer Art krimineller Volkssport ausgeweitet. So spricht der TÜV Süd von einer „traurigen Tradition“ beim Handel mit Automobilen und auch die Prüforganisation KÜS betrachtet Tachomanipulation mittlerweile als „regelrechtes Geschäftsmodell“. Doch wie konnte es nur so weit kommen? Jahrzehntelang wurden die Kilometerstände in Autos mithilfe mechanischer Instrumente angezeigt. Sie zu manipulieren war nicht besonders schwer, erforderte jedoch handwerklichen Aufwand und Geschick.
Zudem glänzten die Fahrzeuge vergangener Epochen lange nicht mit der Qualität, mit der heutige Modelle aufwarten. Sie wirkten nicht nur schnell verschlissen, sie waren es auch. Ab den neunziger Jahren reifte die Mehrzahl von ihnen zu wahren Trutzburgen heran, die Qualität nahm spürbar zu. Plötzlich war ein Wagen selbst nach Jahren optisch wie technisch noch „gut in Schuss“. Wenn nur die vielen Kilometer nicht wären. Denn gerade hierzulande hat der Kilometerstand großen Einfluss auf den Wert eines Automobils – und ist so die Triebfeder der Tachomanipulation. Der tatsächliche Fahrzeugzustand ist laut DAT und Schwacke zweitrangig.
Immer mehr Autobesitzer verspürten in der Folge den Drang, die Laufleistung ihrer eigentlich noch properen Fahrzeuge nach unten zu korrigieren, um beim Verkauf Kasse zu machen. Heute erzielen sie illegal im Schnitt 3.500 Euro mehr pro manipuliertem Fahrzeug dank durchschnittlich 30.000 zurückgedrehter Kilometer, berichtet die Polizei.
Bereits vor Jahren schätzte die Dekra, dass ein Drittel aller Gebrauchtwagen mit gefälschten Tachoständen unterwegs war. „Zu viel“, sagten einige. „Stimmt doch“, sagen jetzt die Experten der Ermittlungsgruppe Tacho und bestätigten mit „30 Prozent“ die Schätzung von einst. Die Folge: Bei etwa sechs Millionen in Deutschland gehandelten Gebrauchtwagen entsteht ein Schaden von jährlich zirka sieben Milliarden Euro.
Elektronik erleichtert Eingriffe
„Was früher in Hinterhöfen aufwendig mechanisch reguliert wurde, passiert heute schnell, sauber und elektronisch“, skizziert Hans-Georg Marmit von der KÜS die traurige Realität. Und Andreas Halupczok, Gebrauchtwagenexperte des TÜV Süd, sieht in der Tachomanipulation mithilfe elektronischer Werkzeuge „eine neue Qualität“ des Missbrauchs. Der Einsatz von Elektronik in Fahrzeugen hat eine mögliche Manipulation also keineswegs erschwert.
Selbst Autobauer Daimler gesteht: „Das Problem der Manipulation an elektronischen Tachos wurde uns bereits kurz nach deren Einführung bekannt.“ Benötigte man in der Anfangszeit elektronischer Tachos für deren Manipulation ebenso handwerkliches Know-how wie seinerzeit bei mechanischen Systemen, ist dies heute oftmals überflüssig. Wer will, kann bei fast allen Autos den Kilometerstand mithilfe der OBD-Schnittstelle verändern. Versuche des ADAC haben gezeigt: Man muss lediglich ein Manipulationsgerät anschließen und bereits nach 30 Sekunden ist alles erledigt.
Hacker-Wissen hilft den Tätern
Dabei macht den Elektronik-Hackern vor allem das Prinzip der CAN-Bus-Systeme, die Vernetzung von Steuergeräten innerhalb des Fahrzeugs, das kriminelle Leben leicht. Mittels spezieller Befehle können sie Speicher, in denen die Wegstrecke abgelegt ist, manipulieren, ohne dass sie Steuergeräte bzw. Kombiinstrumente öffnen müssen. Sogenannte „Backdoors“ (= Hintertürchen), das heißt gewollte „Lücken“, die die Hersteller für eigene Software-Updates vorgesehen haben, ermöglichen den Kilometerdieben den Zugang.
Selbst vor der aufwendigen Taktik des „Reverse-Engeneering“ („Nachkonstruieren von Steuergerätefunktionen) schrecken die Anbieter der Manipulationsgeräte nicht zurück. Die in der Automobilbranche verwendeten Verschlüsselungen stellen, wie das Abspeichern der Laufleistung in „Eeproms“ (modernen Speicherbausteinen), längst kein Hindernis mehr dar. Anfangs ersetzten die Tachotrickser die nur einmalig beschreibbaren Bauteile anfangs kurzerhand durch neue – für fünf Euro im Elektronikhandel erhältlich. Mittlerweile knacken sie auch Eeproms kurzerhand per Datenbefehl.
Seite 2: Wettlauf um das Know-how
Als nächstes begannen die Hersteller, den Kilometerstand in Prozessoren (Rechenbausteinen) zu archivieren, die sich nicht nur in einem, sondern in mehreren im Fahrzeug verteilten Steuergeräten befanden. Der Fachmann spricht von der redundanten Protokollierung der Wegstrecke. Die Ultima Ratio in Sachen Sicherheit? Mitnichten! Auch hier hat die Realität sehr schnell gezeigt: Dank CAN-Bus-Vernetzung ist kein Auto vor Manipulation sicher. Das beweisen die einschlägigen Webseiten der Anbieter (siehe Abbildung S. 16), die eine Tachojustierung als Dienstleistung feilbieten. Hier findet man nahezu jedes Fahrzeug inklusive Preisangebot – Anruf genügt. Da verlieren Aussagen wie die von Peugeot „Eine elektronische Manipulation der Tachometer bei aktuellen Modellen mit CAN-Bus-System ist nicht möglich“, in Sekunden ihre Glaubwürdigkeit.
Sie hören auf Namen wie „Diga Consult“, „Digiprog“ oder „Diagprog“. Zu kaufen gibt es die Tachojustiergeräte – Internet sei Dank – mittlerweile an jeder Ecke. Trotz Preisen zwischen 7.500 und 10.000 Euro amortisieren sie sich schnell. Ihre Bedienung? Vielfach ein Kinderspiel. „Wer einen Kuchen backen kann, kann heutzutage fast jeden Kilometerstand verändern. Das je nach Fahrzeugmodell benötigte ‚Rezept‘, sprich die exakte Vorgehensweise, liefern die Geräteanbieter gratis mit dazu“, erklärt ein Kenner der Materie. Und neue Fahrzeuge, die noch nicht in den offiziellen Angebotslisten der Tachodienstleister auftauchen, werden anfangs zu höheren Preisen direkt beim Hersteller der Tachogeräte manipuliert. „Dann wird binnen weniger Tage die dafür nötige Software in das Justiergerät implementiert und als Update verkauft“, so die bittere Erkenntnis eines Insiders.
„Jeder technologische Vorsprung wird von Kriminellen immer wieder aufgeholt. Entweder durch modernere Angriffswerkzeuge oder neue, bis dahin unbekannte Sicherheitslücken“, erklärt Volkswagen und verkennt, dass die „Bösen“ den Wissensvorsprung der „Guten“, anders als in anderen Branchen – etwa bei Kreditkarten –, hierbei wesentlich schneller einholen. Dennoch ist Europas größter Autohersteller der Ansicht, dass Tachomanipulation heute schwerer fällt als einst. Es bedarf schließlich „professionell agierender Organisationen“ sowie einer „permanenten Nachentwicklung“. Das Problem: Genau das leisten die Anbieter derartiger Geräte und Software, die keineswegs nur in kaukasischen Kellern vermutet werden sollten – einer von ihnen sitzt unweit der VW-Stadt!
Das stimmt nachdenklich und mag das große Schweigen erklären, das oft die einzige Reaktion auf die Anfragen von »kfz-betrieb« bei den Fahrzeugherstellern war. Weil eben „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Keine Reaktion von Opel, Audi, Ford, Mazda, Toyota, Fiat, Citroën und Co. Immerhin baten Kia und Renault um Verständnis, dass man „keine Angaben machen“ bzw. „Fragen nicht beantworten“ werde. Offenkundig interessiert die meisten das Thema nicht. Warum auch? Den Schaden haben schließlich andere.
Auch ein großer deutscher Automobil-Garantieversicherer wollte sich zu der Sache nicht äußern – schade und bezeichnend zugleich. Und Lexus überraschte gar mit der Antwort, dass man sich in Sachen Wegstreckenanzeige „an allgemeine Standards der Automobilindustrie halte“. Stellt sich nur die Frage, wie ein Standard von nichts aussieht. Denn eine Kilometeranzeige ist laut StVZO – im Gegensatz zum Tacho – in Deutschland nicht einmal vorgeschrieben!
Doch wer dreht nun eigentlich an der „Uhr“? „Tachobetrug geht schnell und einfach, ist kaum aufzudecken. Das kann prinzipiell jeden in Versuchung führen, der mit dem Verkauf eines gebrauchten Autos zu tun hat – egal ob Halter oder Händler“, gibt Manfred Groß von der ADAC-Fahrzeugtechnik zu bedenken. „Ein Motiv ist auch die Vermeidung wirtschaftlicher Nachteile, wenn vereinbarte Fahrstrecken überschritten wurden, z. B. bei Leasingfahrzeugen. Zum Teil sind auch Steuerhinterziehung und Betrug bei Sozialabgaben die Triebfeder, wenn Personalkosten über Fahrleistungen abgerechnet werden“, führt Jörg Ahlgrimm, Leiter Analytische Gutachten bei Dekra, als Beweggründe an. Mit anderen Worten: Jeder, der am großen Kreislauf Automobilnutzung und -handel teilnimmt, kann beides sein: Opfer wie Täter.
Eigentlich müsste alles kein Thema sein. Der Gesetzgeber hatte 2005 auf Initiative des ADAC das Übel an der Wurzel gepackt und im Rahmen des § 22b des Straßenverkehrsgesetz STVG nicht nur die direkte Beeinflussung von Wegstreckenzählern, sondern auch den Vertrieb, die Bereithaltung und die Weitergabe entsprechender Manipulationsgeräte bzw. Computerprogramme als Straftatbestand deklariert – eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe droht seitdem.
Seite 3: Das Problem des Nachweises
Leider hat die Regelung nach Ansicht des Automobilclubs nicht den gewünschten Erfolg gebracht. „Das liegt zum einen an der nicht besonders intensiven Strafverfolgung dieser Delikte. Daneben gibt es die juristische Hürde, dass ein Verfälschen des Kilometerstands nachgewiesen werden muss“, schildert Groß das Dilemma. Das Gleiche gilt für die Tachojustierer: Hier müsste im Einzelfall bewiesen werden, dass der Kilometerstand verfälscht wurde – in der Praxis fast unmöglich.
Die moderne Form der Tachomanipulation hinterlässt in der Regel keinerlei Spuren. Zertifizierte Gebrauchtwagenbewertung hin oder her, einen Betrug können weder die Experten der Prüforganisationen noch Werkstätten zweifelsfrei nachweisen. Die genannten Justiergeräte darf jeder völlig legal (ver)kaufen und besitzen, schließlich kann man sie auch zum Einstellen eines „echten“ Kilometerstands nutzen. Außerdem gelten sie — gerichtlich anerkannt – als Diagnosewerkzeuge. Nebenbei kann man mit ihnen auch Fehlerspeicher lesen und löschen. Auch die Werbung für Tachojustage ist völlig legal. Ein lapidarer Hinweis, man führe keine Manipulation aus, genügt – so gängige Praxis – dem Gesetz. Ein unzumutbarer Zustand, nicht nur in den Augen zahlreicher Fachleute.
Die Prüforganisationen raten, vor dem Kauf die Fahrzeugservicepapiere und -dokumente auf die Plausibilität des Kilometerstands hin zu kontrollieren. Doch erstens kann man diese genauso fälschen. Und zweitens verzichten immer mehr Hersteller auf gedruckte Wartungshefte. Stattdessen hinterlegen sie Serviceereignisse auf elektronischen Datenbanken (siehe »kfz-betrieb« 13/2010). Diese Herstellerarchive eignen sich genauso nur eingeschränkt (keine Datenweitergabe an Dritte!) wie immer wieder geforderte landesweite Fahrzeugdatenbanken (analog „Carefax“). Bei beiden kann keiner die dort hinterlegten Daten zweifelsfrei verifizieren.
Eine Katastrophe hat in der Regel nur selten eine Ursache. Fast immer ist sie das Ergebnis mehrerer Probleme – so auch bei der aktuellen Situation der Tachomanipulation. Um Letztere spürbar einzudämmen, sind alle Beteiligten gefordert.
- Erstens die Fahrzeughersteller: Sie sollten sich der Verantwortung gegenüber Gebrauchtwagenkäufern bzw. allen ihren Kunden endlich bewusster werden und ihre Fahrzeugsysteme spürbar besser vor Manipulation schützen. „Der technische Standard, der hier vielfach zur Anwendung kommt, liegt weiter hinter den z. B. bei Kreditkarten oder Pay-TV verwendeten Technologien zurück“, so ein Experte. Sogenannte „Kryptoverfahren“, die Verwendung von Speicherbausteinen, die nicht über OBD programmiert werden können, sowie eine optische Versiegelung von Elektronikkomponenten wären mögliche Maßnahmen. Die Mehrkosten, die entstehen würden? Nach Aussagen von Zulieferern und Chipherstellern lächerliche 50 Cent bis zwei Euro pro Fahrzeug.
- Zweitens der Gesetzgeber: Eine wahrnehmbare Strafverfolgung fand bisher kaum statt. Vielleicht ist die Münchener Polizeiaktion ja der Auftakt zu einer Wende? Auch das Strafmaß, gerade bei gewerbsmäßigem Betrug, empfinden viele als deutlich zu niedrig. Zudem müsste die gesetzliche Vorschrift dahingehend geändert werden, dass Umgehungsversuche aufgrund der schweren Nachweisbarkeit des „Verfälschens“ ausgeschlossen werden. Eine weitere, sicher sehr effektive Möglichkeit wäre, auch in Pkw, analog Nutzfahrzeugen, die Aufzeichnung der Wegstrecke vorzuschreiben. So würde theoretisch laut § 57 StVZO eine technische Aufzeichnung existieren und die Änderung der Wegstrecke wäre automatisch strafbar.
- Und drittens Fahrzeugkäufer und -verkäufer: Dass in vielen von ihnen und damit in uns allen ein Egoist sitzt, der vor allem sich selbst am nächsten ist, ist nachvollziehbar wie problematisch zugleich. Deshalb sollte sich jeder bei diesem Thema an die eigene Nase fassen und die Konsequenzen bedenken.
Welche das für Kfz-Betriebe sind, lesen Sie im Gespräch mit dem ZDK-Rechtsexperten Ulrich Dilchert.
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