Weniger Sterne für mehr Sicherheit
In letzter Zeit gab es kaum noch neue Fahrzeuge, die sich nicht mit vier oder fünf Sternen im Euro-NCAP-Test schmücken konnten. Jetzt ändert sich das Bewertungsverfahren.
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Die gute Nachricht vorneweg: Autos werden immer sicherer. Eine Vielzahl moderner Maßnahmen zur aktiven und passiven Sicherheit trägt erheblich dazu bei, Unfälle zu verhindern oder – wenn es doch kracht – zumindest die Folgen abzumildern.
Diese Entwicklung schlägt sich in den Crashtests nieder. Bei Euro NCAP erreichte in der Kategorie Erwachsenen-Insassenschutz in den letzten Jahren rund die Hälfte aller getesteten Fahrzeuge ein Fünf-Sterne-Rating; drei Sterne und weniger vergaben die Prüfer dagegen kaum noch.
Die an sich erfreulichen Ergebnisse haben allerdings eine Kehrseite: Wenn nur noch die Noten „sehr gut“ und „gut“ vergeben werden, bestehen für den Konsumenten kaum noch Differenzierungsmöglichkeiten. Der Käufer will sich zwar für das sicherste Fahrzeug entscheiden, kann aber schwer abschätzen, welches das beste unter den sicheren Modellen ist.
Falsches Gefühl der Sicherheit vorgekaukelt
Noch schwerer wiegt die Tatsache, dass die Topwerte beim Erwachsenen-Insassenschutz zum Teil eine Sicherheit vorgaukeln, die unter dem Strich gar nicht gegeben ist. Denn in den beiden anderen Kategorien Kinder-Insassenschutz und Fußgängerschutz stagnieren die Ergebnisse. Das bemerkt nur kaum jemand, da die Hersteller verständlicherweise mit Vorliebe ihre Topwerte in der ersten Kategorie kommunizieren. Auch die Medien tun sich schwer, zwischen den unterschiedlichen Werten in den drei Kategorien zu differenzieren.
Die Lösung soll ein neues Bewertungssystem bringen, das nun schrittweise eingeführt wird. Es fasst die Ergebnisse aller Bereiche zusammen – der drei bisher bestehenden und einer neuen Kategorie. Sie integriert neue Testverfahren zum Heckaufprallschutz (Whiplash) und im Bereich der aktiven Sicherheit (zum Beispiel ESP, Speed Limiter). In Zukunft können Verbraucher und Medien demnach auf ein einfaches Sterne-Rating zurückgreifen, das alle getesteten Kategorien umfasst. Als Bestnote sind fünf Sterne möglich. Neu hinzukommende oder verschärfte Anforderungen führen nicht zu einer Anhebung der maximal erreichbaren Anzahl von Sternen, sondern zu einer internen Verschiebung der Kriterien.
Wer es genauer wissen will, findet weiterhin detaillierte Informationen zu den Einzelergebnissen jeder Kategorie. Auf dieser Ebene kann der Interessent auch fast immer mit älteren Ergebnissen vergleichen – auch wenn das Overall-Rating durch neue Tests oder durch eine Verschärfung der Anforderungen einen rückwärtsgerichteten Vergleich nicht mehr zulässt.
Vier Einzelergebnisse ergeben Gesamtnote
Um die einzelnen Ergebnisse der jeweiligen Tests aus den vier Kategorien zu einer Gesamtwertung zusammenzuführen, wenden die Tester zwei Verfahren an: die Wichtungs- und die Balancing-Methode. Das schlechtere der beiden Resultate definiert das Endergebnis.
Bei der Wichtungsmethode wird das Ergebnis jeder Kategorie mit einem festgelegten Faktor multipliziert und die Summe aus den vier Produkten gebildet. Aus dieser Summe lässt sich dann gemäß einem festgelegten Schlüssel die Anzahl der Sterne ableiten. Aktuell gelten die folgenden Wichtungsfaktoren:
- Erwachsenen-Insassenschutz: 50 Prozent
- Kinder-Insassenschutz: 20 Prozent
- Fußgängerschutz: 20 Prozent
- Sicherheitsassistenzsysteme: 10 Prozent
Bei der Balancing-Methode entscheidet die Mindestperformance in jeder einzelnen Kategorie über das Overall-Rating. Eine besonders gute Leistung in einem Bereich kann also Schwächen auf der anderen Seite nicht ausgleichen. Letztlich entscheidet die schlechteste Performance in einer Kategorie über das Gesamtergebnis. Die Balancing-Methode soll eine möglichst homogene Sicherheitsperformance in allen Kategorien fördern. Sie deckt einzelne Schwächen wirkungsvoll auf.
Übergangszeit gewährt Schonfrist
Mit dem neuen Ratingverfahren ist eine Vielzahl von Parametern verbunden, die das Overall-Rating entscheidend beeinflussen können. Bei einer allzu ambitionierten Definition dieser Stellgrößen könnte die Situation entstehen, dass ein Fahrzeug im alten Rating-System ein sehr gutes Fünf-Sterne-Ergebnis im Erwachsenen-Insassenschutz aufweist und im neuen Verfahren nur noch ein Ein- oder Zwei-Sterne-Overall-Rating bekommen würde.
Eine solche Entwicklung wäre nicht auf ein schlechtes Sicherheitsniveau des Fahrzeugs zurückzuführen, sondern lediglich auf das drastisch geänderte Rating-Verfahren.
Um gegenüber den Verbrauchern nicht unglaubwürdig zu werden und um der Automobilindustrie die Chance zu geben, sich den geänderten Anforderungen anzupassen, führt Euro NCAP sein neues Bewertungsverfahren in drei Schritten ein. Dabei spielt unter anderem eine Rolle, dass manche Anforderungen insbesondere zum Fußgängerschutz in einigen Fahrzeugklassen deutlich schwieriger und nur mit längerem Vorlauf zu erreichen sind als in anderen. Für die Jahre 2009, 2010/11 und 2012 gelten deshalb unterschiedliche, zum Teil stark ansteigende Performance-Anforderungen.
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