»kfz-betrieb« Fahrzeug-Check: Polaris Slingshot – pures Fahren
Die Mischung aus Auto und Motorrad aus dem Hause Polaris bietet für einen moderaten Preis ein einzigartiges Fahrerlebnis. Ähnlich hochemotionale Reaktionen wie bei dieser Fahrmaschine gab es bislang noch bei kaum einem anderen Testfahrzeug der Redaktion.
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Der Typ, der vor mir über den Zebrastreifen läuft, rastet völlig aus. Er geht leicht in die Knie und reckt die Arme zum Himmel, bevor er sein Handy aus der Hosentasche reißt, um verbissen eine schnelle Serie zu schießen. Zwischendurch schaut er mich an und gibt anfeuernde Ruflaute von sich. Das fühlt sich irgendwie seltsam an, denn schließlich bin ich in Deutschland.
Der Bentley Flying Spur, den ich vor einiger Zeit fahren durfte, hat auch Reaktionen provoziert, aber das war eher das hierzulande Erwartbare: Mienenspiele mit einer Mischung von Neugier und Neid im Blick, dazu eine Prise Unterwürfigkeit – von purer Freude geschüttelte Kinder natürlich ausgenommen. Aber leidenschaftlich positive, spontane Ausbrüche, das gibt es am deutschen Straßenrand eben selten. Deshalb ist es auch wenig erfolgversprechend, Autos auf dem deutschen Neuwagenmarkt allein über das Thema Emotion verkaufen zu wollen.
Dann aber fuhr der „Slingshot“ (dt.: Zwille, eine Anspielung auf die Y-artige Plattformarchitektur) auf den Verlagshof und es keimte die Erkenntnis, dass offenbar nur der richtige Eisbrecher auffahren muss, um Kfz-affine deutsche Passanten botenstoffmäßig explodieren zu lassen. Was auch für die Autobahn gilt, wo sich mehrere Überholer zurückfallen ließen, um den seltenen Polaris-Sportler ausführlich von allen Seiten begutachten zu können.
In der Tat lässt einen bereits ein erster Rundgang um das Fahrzeug mit der Zunge schnalzen. Die spektakulärste Perspektive ist sicherlich von seitlich vorne, wo das völlig zerklüftete Design des Dreirads in Kombination mit der sportlich geschnittenen Fahrgastzelle am besten zur Geltung kommt. Natürlich ist auch die Frontalansicht spektakulär – der knapp zwei Meter breite Vorderbau, die Aussparungen vor den Vorderreifen und der sehr böse Blick der Leuchtenanordnung – das alles ergibt einen geradezu testosterongetränkten Eindruck. Von achtern beeindruckt die unverbaut an der Einarmschwinge aufgehängte 255er-Rolle. Allein von seitlich hinten sieht der Slingshot – Zitat eines Autohändlers – „irgendwie wie ein abgesägtes Boot aus."
Das Tricycle, oder – Bürokratendeutsch – das Kfz mit drei symmetrisch angeordneten Rädern ist auch in Sachen Ausstattung alles andere als herkömmlich: Zunächst mal gibt es kein Dach und keine Türen. Für den diskreteren Parkstopp verkaufen Vertragshändler allerdings sowohl einen Cockpit- als auch einen Vollschutzbezug.
Die Zwille hat zwei Sitze, die auf den ersten Blick so aussehen, als hätte man sie aus einem Rummel-Fahrgeschäft ausgebaut. In der Praxis erweisen sie sich die Schaumschalen allerdings selbst auf längeren Strecken als äußerst bequem und flexibel, bei ausreichendem Seitenhalt. Die Gurtrollen sind zwischen den beiden Sitzen verbaut, die Gurtschlösser sind an den Einstiegsöffnungen verankert.
Kofferraum gibt es keinen, aber immerhin ein geräumiges Handschuhfach und zwei erstaunlich große Staufächer hinter den vorklappbaren Sitzen, in die jeweils ein Helm und diverser Kleinkram oder Wechselklamotten reinpassen.
Vorsichtshalber mit Helm
Ein rahmenloser, nicht wirklich hoher Windschild schützt nach vorne, an den fehlenden Rückspiegel muss man sich gewöhnen – zumal die Außenspiegel ziemlich klein geraten sind. Apropos Helme – die müssen in Deutschland in dieser Klasse nicht zwangsläufig aufgesetzt werden. Die beiden Überrollbügel sind auch ausreichend mächtig dimensioniert. Allerdings würde der Windschild allein bei größeren Personen nicht vor Kopfschüssen durch fette Käfer bei Tempo 200 schützen.
Tankstutzen und -deckel sitzen beim Slingshot oben seitlich auf dem Stummelheck. Unter dem kurzen Stutzen ist direkt ein Bogenstück verbaut, so dass man den Sprit nicht mit Normaldruck, sondern nur gefühlvoll dosiert einfüllen kann.
Die Funktionen im Innenraum sind auf das Wesentlichste reduziert. Abgesehen von den Knöpfen am mittleren Display – das Rückfahrkamerabild ist bei Sonnenschein kaum sichtbar – gibt es an der Lenkradsäule einen Schalthebel für die Leuchtensteuerung und die Cruise Control. In der Mittelkonsole thront der Schalthebel. Darüber gibt es den Fahrhilfe-Schalter und eine weitere Schalterreihe, in deren Zentrum der große, rot beleuchtete Anlasserknopf sitzt. Ich nehme vorweg: Wo ein solcher Knopf bei den meisten anderen Fahrzeugen mittlerweile nur noch ein gelangweiltes Augenrollen provoziert, löst der Zwillen-Startknopf auch nach Ablauf einer Testwoche noch einen gleichbleibend veritablen Adrenalinschub aus, sobald der Finger darauf liegt und der Zylinderweckruf unmittelbar bevorsteht.
Doch um zunächst noch das Ausstattungsthema abzuschließen – Heizung: Keine. Airbags: Null. Hilfen: ABS und ESP. Becherhalter: Zwei. Außerdem ein MP3-fähiges Radio mit USB-Anschluss im Handschuhfach und sechs Lautsprechern, mit deren Schalldruck man ein komplettes Straßendorf unterhalten kann.
Jetzt geht's aber los: Mit einer schnell einstudierten Körperdrehung kann man zügig den Fahrersitz entern. Schlüssel auf Zündposition und ein kurzes, kontemplatives Innehalten vor dem Anlasserknopf, um die erwähnte körperliche Reaktion auszukosten. Dann kommt der 2,4-Liter-Sauger aus dem GM-Pkw-Regal auf und versetzt den Stahlrohrrahmen, an dem alles Weitere hängt, in Vibration. Da nichts gedämmt ist, klingt das Aggregat bereits im Leerlauf tief, klangvoll und gut vernehmlich durch die Helmöffnung.
Die bei langsamen Geschwindigkeiten ziemlich schwergängige Lenkung macht beim Rangieren keinen Spaß, aber wenn dann der Fahrweg frei ist, ist das auch schon vergessen. Im zweiten Gang stürmt die Zwille vor gewaltiger Geräuschkulisse los. Die Beschleunigung mit nominalen 175 PS ist mit Motorradleistungen zwar nicht zu vergleichen – der Slingshot wiegt trocken immer noch 760 Kilogramm – aber durch die niedrige Sitzposition, die offene Zelle und das knallharte Fahrwerk liegt die gefühlte Geschwindigkeit stets deutlich über dem realen Tempo. Die Sinnesorgie wird zwischendurch immer wieder vom lauten Aufheulen des kohlefaserverstärkten Zahnriemens begleitet, der das Hinterrad antreibt.
Da die Fahrhilfen dankenswerter Weise sehr zurückhaltend eingreifen, kann man schon in der Stadt Driftspaß haben. Ist die Fahrbahn feucht oder gar richtig nass, ist an schlupfloses, einigermaßen geregeltes Anfahren mit der hinteren Solowalze sowieso nicht zu denken.
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