Mercedes-Benz: Abbiegeassistent für Lkw

Autor / Redakteur: Wolfgang Pester / Jens Scheiner |

Auf dem Dekra-Zukunftskongress Nutzfahrzeuge hat Mercedes-Benz seinen Abbiegeassistenten für Lastkraftwagen vorgestellt.

Der Abbiegeassistent arbeitet mit Radar. Die Radarsensoren befinden sich in einem Modul auf der rechten Fahrzeugseite vor der Hinterachse in der Seitenverkleidung.
Der Abbiegeassistent arbeitet mit Radar. Die Radarsensoren befinden sich in einem Modul auf der rechten Fahrzeugseite vor der Hinterachse in der Seitenverkleidung.
(Foto: Daimler)

Bei Abbiegeunfällen zwischen Lkw und Fahrradfahrern starben 71 Menschen und 723 wurden schwer verletzt, so die Unfallforschung der Versicherer (UDV) nach Zahlen für 2012. Fast immer lag die Schuld beim Lkw-Fahrer. Mit dem Abbiegeassistenten kommt bei Mercedes-Benz in Kürze nun ein System auf den Markt, mit dem Kreuzungsunfälle vermieden oder in ihrer Schwere vermindert werden können. Denn bei den Kreuzungsunfällen geschieht in 64 Prozent aller Fälle der Zusammenstoß zwischen Lkw und Fußgänger beziehungsweise Fahrradfahrer auf der rechten Seite des Lkw, so Ballarin – null Prozent auf der linken.

Die korrekt eingestellten Außenspiegel vermitteln derzeit zwar ein nahezu vollständiges Bild der Verkehrsteilnehmer neben dem Lkw, aber auch der beste Lkw-Fahrer kann beim Abbiegen Fußgänger oder Radfahrer übersehen. Das geschieht etwa, wenn ein Radfahrer auf gleicher Spur rechts den Lkw überholt und so in dessen Fahrspur gerät, während der Fahrer sein Fahrzeug kurzzeitig mit einem Blick nach vorne oder links absichert und/oder die Ampel beobachtet. Dem Fahrer hilft der neue Abbiegeassistent von Mercedes-Benz durch optische und akustische Signale bei der Arbeit, insbesondere im komplexen städtischen Verkehrsumfeld.

Bildergalerie
Bildergalerie mit 5 Bildern

Für einen Lkw-Fahrer ist es fast unmöglich, in einer dynamischen Verkehrssituation die Gesamtlage vollständig zu überblicken. Deshalb waren nach letzten Zahlen von 2013 bei den allgemeinen Unfallarten die schweren Nutzfahrzeuge an Kreuzungsunfällen zu 26 Prozent beteiligt. „Unsere aktiven Sicherheitssysteme sollen helfen, Unfälle zu vermeiden oder die Unfallschwere zu vermindern“, sagte Dr.-Ing. Christian Ballarin in Berlin. Er leitet bei Daimler Trucks die Vorentwicklung für autonomes Fahren, Fahrerassistenzsysteme und Konnektivität. Laut Ballarin erfassen bereits die bisher für Lkw erhältlichen Systeme zur Verhinderung von Auffahrunfällen, wie der „Active Brake Assist“ (ABA), sowie zur Warnung vor dem Abkommen von der Fahrbahn, wie der Spurhalteassistent (LDWS), nahezu zwei Drittel der Unfallarten.

Die Ingenieure von Daimler haben sich bei der Erkennung von Fußgängern, Radfahrern sowie stationären Hindernissen für die Radarsensorik entschieden statt eines Kamera-Monitor-Systems. Ihre Untersuchungen ergaben, dass das Radar Abstand, Geschwindigkeit und Position potenzieller Hindernisse zuverlässig erkennen und Objekte exakt vermessen kann, und das auch bei schlechten Sichtverhältnissen, zum Beispiel bei Schneefall und Nebel. Zudem würde der Fahrer mittels Kamera-Monitor-Systems nicht aktiv gewarnt und seine Belastung durch den weiteren Bildschirm - zu den bereits vorhandenen zahlreichen Spiegeln - während des Abbiegevorgangs zusätzlich erhöht.

Ergänzendes zum Thema
Hintergrund zur Unfallstatistik

Untersuchungen von Realunfällen (1999 und 2015) zwischen rechts abbiegenden Lkw und Radfahrern sowie Analysen über das Blickverhalten von Lkw-Fahrern (2005) und der Wahrnehmung von Bewegungen in Weitwinkel- und Hauptspiegel (2013) untermauerten die Bedeutung des Abbiegeassistenten als aktives Sicherheitssystem im Lkw. So verliefen die von der Unfallanalyse Berlin untersuchten 141 Realunfällen aus 1999 für 31 Prozent der Radfahrer tödlich und 25 Prozent wurden schwer verletzt: In 73 Abbiegeunfällen wurde zwar keiner der Radfahrer überrollt, dennoch wurde ein Biker tödlich verletzt sowie zehn schwer verletzt. Aber in 68 Fällen überrollte der Lkw den Radfahrer, wobei 43 Tote und 25 Schwerverletzte zu beklagen waren.

Nach dieser Analyse der 141 Unfälle aus 1999 spielten auch Sichteinschränkungen, die Fahrer selbst aufbauen, eine Rolle. So waren zweimal eine Kaffeemaschine auf Armaturenbrett und je einmal ein aufgebauter Holzsockel, ein Stofftier sowie ein Fernseher auf dem Armaturenbrett Ursache einer Sichtbehinderung. Laut Leser ist „alles beim Alten“, denn wie die Untersuchung von 35 Fällen in diesem Jahr durch die Unfallanalyse Berlin belegt, lagen in fast 50 Prozent der beteiligten Lkw diese Sichtbehinderungen vor.

Die Radarsensoren befinden sich in einem Modul auf der rechten Fahrzeugseite vor der Hinterachse in der Seitenverkleidung. Sie decken die komplette Länge eines Sattel- oder Gliederzugs ab. Die Erkennungslogik ist auf zwei Meter vor dem Fahrerhaus und nach hinten bis zum Ende des Fahrzeugs ausgerichtet. Befindet sich ein bewegliches Objekt in der rechten seitlichen Überwachungszone, wird der Fahrer über eine gelb aufleuchtende LED in Dreiecksform in der Säule des Windschutzscheibenrahmens auf der Beifahrerseite informiert. Bei Kollisionsgefahr blinkt die LED-Leuchte rot mit höherer Leuchtkraft und es ertönt seitenrichtig ein Warnton. Das geschieht auch, wenn die Sensoren beim Abbiegen in der Schleppkurve des Lkw ein stationäres Hindernis, etwa eine Ampel, ein Schild oder einen Laternenmast erkennen.

Bildergalerie
Bildergalerie mit 5 Bildern

Ebenfalls unterstützt der Abbiegeassistent den Fahrer beim Spurwechsel über den gesamten Geschwindigkeitsbereich, vom Stand bis zur zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Daraus resultiert eine weitere Sicherheitsfunktion, die den Fahrer beim Wiedereinscheren nach einem Überholvorgang, beim Wechsel der Spur nach rechts an Autobahnverzweigungen sowie bei der Zusammenführung von Spuren assistiert. Bereits im vergangenen Jahr hatte Mercedes-Benz den Abbiegeassistenten vorgestellt – damals noch im Entwicklungsstatus.

Reduzierung der Unfälle um ein Drittel möglich

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) gehe davon aus, dass mit einem Abbiegeassistenten rund die Hälfte aller Unfälle zwischen Lkw und Fußgängern beziehungsweise Radfahrern vermieden werden kann. Die damit verbundenen Todesfälle könne sich um fast ein Drittel reduzieren. Das Potenzial der Unfallvermeidung durch einen Abbiegeassistenten in Lkw untersuchte die Unfallforschung der Versicherer (UDV) in einem mehrjährigen Forschungsprojekt. Theoretisch könnten mit dem „aufmerksamen Beifahrer“ 4,4 Prozent aller Lkw-Unfälle vermieden werden. Bezogen auf alle Kollisionen zwischen Lkw und Fußgängern beziehungsweise Radfahrern wären 42,8 Prozent Unfälle vermeidbar: Infolge wären 31,4 Prozent weniger Tote zu beklagen und es sinke die Zahl der Schwerverletzten und Leichtverletzten um 43,5 Prozent respektive um 42,1 Prozent, so die UDV.

(ID:43692630)