Renault Alles bingo, Twingo?

Von sp-x

Adieu Tristesse! Mit dem Twingo revolutionierte Renault vor 30 Jahren das Design der Cityflitzer. Mit unwiderstehlichem Kulleraugen-Blick, kultiger Kuscheltier-Optik und Haute-Couture-Ausstattungen eroberte dieser Franzose die Herzen der Frauen.

Insgesamt liefen über 2,6 Millionen Einheiten der ersten Twingo-Generation vom Band. Allein in Deutschland setzte Renault über eine halbe Million Stück ab.
Insgesamt liefen über 2,6 Millionen Einheiten der ersten Twingo-Generation vom Band. Allein in Deutschland setzte Renault über eine halbe Million Stück ab.
(Bild: Renault)

Umsturz in der Modemetropole Paris: Mit dem eigenwilligen Twingo ging Renault im Herbst 1992 gegen die Langeweile in der Klasse der Cityflitzer an. Auf dem Catwalk des Pariser Automobilsalons zeigte der keck geformte Twingo erstmals seinen berühmten Kulleraugenblick, der vor allem die Herzen der Frauen eroberte: Fast 70 Prozent der rund 2,5 Millionen Twingo erster Generation wurden an Käuferinnen ausgeliefert – im Minicar-Segment rekordverdächtig. Der legendäre Renault-Chefdesigner Patrick Le Quément hatte dem 3,43 Meter kurzen Kleinwagen ein keckes Gesicht mit Scheinwerfern gewährt, die sogar schelmisch zu zwinkern schienen. Kein süßes Kindchen-Schema à la Nissan Micra, sondern in den Worten des Renault-Pressecommuniqués ein „freundlich-fröhlicher Frosch, der seinen eigenen Weg wagt“.

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In der Tat: Beim Twingo bildeten Motor-, Fahrgast- und Kofferraum eine Einheit, ganz wie beim großen Bruder, dem revolutionären Renault Espace. Als erster vielseitiger und geräumiger Kleinwagen, maßgeschneidert fürs Großstadtgewusel, schrieb der Twingo Geschichte. Breite Türen boten bequemen Einstieg und eine um 17 Zentimeter verschiebbare Rücksitzbank größere Beinfreiheit im Fond. Sogar als Umzugswagen taugte der Twingo durch das bis 955 Liter fassende Gepäckabteil. Und wie es sich für ein Auto aus der Hauptstadt der Haute Couture gehört, setzte der Twingo Modetrends mit bunten Popart-Lackierungen und Lifestyle-Editionen: Renault wusste offenbar, was „les femmes“ wollen.

Ein Wagen wie kein anderer

Der Twingo, das war kein weiterer gefälliger gallischer Kleiner à la Peugeot 106, Citroën AX oder Renault Clio, und auch mit den deutschen Einstiegsmodellen VW Polo oder Opel Corsa sollte er eigentlich nicht konkurrieren. Mit dem Twingo präsentierte Renault einen neuartigen Verwandlungskünstler, der für fast alle bezahlbar war und auf City-Boulevards ebenso brillieren sollte wie auf Campingplätzen – speziell dafür ließ sich seine Sitzlandschaft wie bei einem Van in ein Doppelbett verwandeln. Damit sich das Projekt rechnete, nutzte Renault bestehende hochautomatisierte Fertigungskapazitäten in Flins bei Paris und Valladolid/Spanien und verzichtete auf Varianten; es gab anfangs nur einen jahrzehntealten 40 kW/55 PS leistenden 1,2-Liter-Vierzylinder, ein minimalistisches Plastikcockpit, eine einheitliche Interieur-Ausstattung und auch sonst keine Modellvarianten (nicht einmal Rechtslenkerversionen). So war die Entwicklung des Twingo deutlich preiswerter als die Konstruktion des kurz zuvor eingeführten Clio, und im Renault-Modellportfolio konnte der Twingo den R5 Campus als billigsten Typ ersetzen.

„Der macht die Welt verrückt“

Die Twingo-Premiere in den Pariser Messehallen an der Porte de Versailles erinnerte an die spektakulären Debüts früherer disruptiver Renault-Modelle: So wie 1961 beim unkonventionellen Renault 4 und 1972 beim Renault 5 mit Plastikschutzschilden reagierte das Publikum zuerst verblüfft, dann begeistert und dann überschüttete es das Messestandpersonal mit 2.500 Blindbestellungen. „Twingo. Der macht die Welt verrückt“, freute sich das Renault-Marketing und feuerte den Hype an: 172.000 Kaufverträge folgten direkt nach Marktstart. Das übertraf die kühnsten Hoffnungen der Renault-Konzernstrategen, die das ursprünglich von Stardesigner Marcello Gandini gezeichnete, dann vom Renault-Designer Jean-Pierre Ploué neu definierte und ab 1987 von Patrick Le Quément verantwortete Kleinwagen-Projekt X-06 in die Asservatenkammer gescheiterter Konzepte schieben wollten. Bis zuletzt gab es Diskussionen um das finale Design des Twingo, besonders um die verschmitzte Frontgestaltung inklusive der wie Segelohren von der Karosserie abstehenden Außenspiegel und die durch Wölbungen in der Motorhaube angedeuteten Augenlider.

Unberechtigte Sorgen, denn Renault hatte den Nerv der experimentierfreudigen Neunzigerjahre getroffen. „Twingomania“ nannten die französischen Medien die Begeisterung für den billigen Renault, der in Deutschland erst im Frühling 1993 bei den Händlern eintraf. Deutschen Ursprungs war übrigens auch der klangvolle Kunst-Name des Minicars, den der Namens-Guru Manfred Gotta aus den Wörtern Twin, Twist und Tango komponiert hatte. Welche Dynamik der anfangs wenig kräftig motorisierte Twingo ausstrahlte, zeigte sich, als er in Frankreich einen vorderen Platz im Ranking gestohlener Fahrzeuge besetzte und so stärkere und prestigeträchtigere Modelle verdrängte. Allerdings konnte der Twingo bald auch einen schnellen Tanz aufs Parkett legen, denn Renault erkannte das Kultpotenzial seines Ministars und pflegte dieses durch sensationelle Prototypen.

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Ein wahres Kultmobil

Bestückt mit einem 1.600-kW/2.200-PS-Triebwerk aus einem Düsenflugzeug glühte deshalb 1999 im Rahmen des 24-Stunden-Rennens der Renault Twingo-Jet mit über 300 km/h durch die Grüne Hölle des Nürburgrings. Die furiosen Renault Twingo bei Eisrennen und Rallyes wurden von den Rivalen ab Ende der Neunzigerjahre gefürchtet. Die Welt staunte auch nicht schlecht, als im Frühjahr 1995 vor der Festivalstadt Cannes ein schnittiger Katamaran aufkreuzte, obendrauf montiert ein Renault Twingo als Kommandobrücke. Der Name des amphibischen Geschöpfs lautete „Twingo Marine“. Der Twingo-Kapitän konnte sein 6,60-Meter-Boot locker vom Fahrersitz aus dirigieren, als wäre er mitten im Pariser Stadtverkehr.

„Einfach süüüß!“ Kaum ein anderes Automobil wurde so oft mit diesem Lob bedacht wie der erste Twingo, ein ikonischer Minimalist in ewig jungen Formen, wie sonst vielleicht nur Fiat 500 und der englische Mini. Aber auch diese Klassiker benötigen regelmäßige Aktualisierungen; beim Twingo kam es 2007 zum ersten Generationenwechsel. Zuvor waren es kontinuierliche Aufwertungen, die den Twingo frisch hielten, etwa durch Aufrüstung der anfangs mageren Sicherheitsausstattung, dazu gab es stärkere Motoren und Editionen prominenter Modecouturiers von Kenzo über Benetton bis Elite. Auch die Pariser Designschule Esmod ließ sich durch den Twingo zu neuen Styles inspirieren.

Der Nachfolger: Ohne jede Faszination

Diese Erfolgsstory konnte Twingo Nummer 2 ab 2007 fortschreiben; zum Trendmobil taugte der in jeder Hinsicht modernere, sicherere und größere, jetzt 3,60 Meter lange Zweitürer aber nicht mehr. Es fehlte dem frischgemachten Kleinwagen an jener Faszination, die den Ur-Twingo so très francais und très chic machte. Immerhin gab es den zweiten Twingo mit großem Faltdach, ähnlich wie es im Vorgänger Sonnenbad und Frischluftvergnügen garantierte.

Die 2014 lancierte dritte Twingo-Generation, nun als viertüriges Heckmotormodell analog zum verwandten Smart Forfour, bringt es bis heute auf respektable Verkaufszahlen. Als Minicar für modebewusste Frauen eignet sich der aktuelle Twingo, nicht aber als Raumwunder für die Familie – und Antriebs-Avantgarde findet sich allenfalls im seit 2020 angebotenen Twingo Electric. Wie es künftig weitergeht für den knuffigen Kleinen? Vielleicht gar nicht, denn Renault plant ab 2024 ein Revival der Kultkisten R4 und R5, vollelektrisch natürlich. Andererseits: Genau diese Typen wurden vor 30 Jahren schon einmal durch einen bahnbrechenden Twingo ersetzt.

 

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